Für die konsequente Anwendung von Restorative Justice im Strafrecht haben sich die rund 120 Teilnehmer des Fachtages Straffälligenhilfe und Strafvollzug ausgesprochen, der am Montag, 23. September im Seehaus Leonberg stattfand. Der Fachtag wird einmal im Jahr vom DBH e.V., dem Justizministerium Baden-Württemberg, der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg, dem Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg und dem Seehaus e.V. veranstaltet.
Auf die Grundzüge von Restorative Justice verwies Friedrich Schwenger, Beauftragter für Gefängnisseelsorge der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, in seinem Vortrag. Bei Restorative Justice gehe es darum, Opfer, Täter und die Gemeinschaft auf freiwilliger Basis in einen Dialog zu bringen, um Straftaten, Konflikte und problematische Situationen umfassend aufzuarbeiten. „Restorative Justice stellt die Heilung der Wunden von Opfern, die Verantwortungsübernahme von Tätern und den sozialen Frieden der Gemeinschaft in den Mittelpunkt“, sagte Schwenger. Sozialer Frieden umfasse wesentlich mehr als Rechtsfrieden, da er erst durch Wiedergutmachung und Vereinbarungen über künftiges Verhalten entstehe.
Laut Schwenger profitieren alle Beteiligten von Restorative Justice: die Täter, weil sie neue Wege und Handlungsmuster lernen und sich neu als Mitglied eines Gemeinwesens verstehen; die Opfer, indem ihnen Beratung, Therapie und andere Hilfen gewährt werden; das Gemeinwesen, weil es sich neu ausrichten kann. Kommunale Institutionen würden ermuntert, moralische und ethische Standards zu setzen, um Strukturen für ein vertrauensvolles Miteinander zu etablieren.
Laut Dr. Michael Kilchling, Kriminologe am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, verfügt Deutschland im internationalen Vergleich über einen der weitesten Rechtsrahmen für Restorative Justice. „Es gibt keine Anwendungsbeschränkungen bei den Straftaten, den beteiligten Personenkreis oder beim Zeitpunkt während eines Verfahrens. Durchführbar sind die Modelle sowohl im Erwachsenen- als auch im Jugendstrafrecht“, erläuterte er. Selbst in schweren Fällen sei ein Täter-Opfer-Ausgleich möglich und wichtig.
Kilchling bedauerte, dass es für Restorative Justice keinen umfassenden deutschen Begriff gebe, der die gesamte Bandbreite dieses Themengebietes abdecke. Als ein Kernelement bezeichnete der Kriminologe den Täter-Opfer-Ausgleich. Dabei stünden die Wiedergutmachung an den Opfern – sei es materiell, psychologisch oder nur symbolisch – und die Verantwortungsübernahme für die Tat im Vordergrund. Darüber hinaus gehe es um die Reintegration von Tätern und Opfern ins normale Alltagsleben. „Das haben oft beide Seiten durch eine Straftat verloren.“ Weitere Möglichkeiten, um Restorative Justice anzuwenden, bestünden bei Schlichtungen, Konferenzen, Mediationen durch Polizei und Gerichte sowie durch Sensibilisierungs- und Opferempathie-Programme. Leider würden die Restorative-Justice -Programme viel zu selten angewendet.
Kilchling ist aber überzeugt, dass Restorative Justice in Deutschland und Europa eine große Zukunftsperspektive hat. Ein Grund dafür sei die Opferrechts-Richtlinie der EU, die einen Täter-Opfer-Ausgleich garantiert.
Nach Auskunft von Christoph Willms vom Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung des DBH e.V., sind statistischen Erhebungen zufolge weit mehr als die Hälfte der Geschädigten und Beschuldigten nach einer ersten Kontaktaufnahme zu einem Täter-Opfer-Ausgleich bereit. Bei drei Viertel aller Fälle komme es auf Anregung eines Amts- oder Staatsanwaltes zustande. Allerdings würde ein Täter Opfer Ausgleich noch nicht flächendeckend und auch nicht in allen Phasen des Strafverfahrens angeboten. „Vielen Tatbetroffenen und Tatverantwortlichen wird immer noch die Chance auf Restorative Justice verwehrt“.
Nico Kempf von der DFB-Stiftung Sepp Herberger berichtete über die Initiative „Anstoß für ein neues Leben“. Zentrales Thema dabei ist die Vermittlung der Opferperspektive. Dafür arbeitet die Stiftung eng mit Christoph Rickels zusammen, der auch bei der Fachtagung referierte.
Rickels bekam 2007 nach einem Discobesuch einen Faustschlag ins Gesicht und landete mit dem Kopf auf dem Steinboden. Seitdem ist er halbseitig gelähmt. Er wird sein Leben lang leiden. Bis heute hat er weder Schmerzensgeld noch eine Entschuldigung des Täters erhalten. Der Schläger wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Rickels dazu: „Das ist nichts. Für ihn hatte das Ganze praktisch keine Konsequenzen, für mich dagegen schon.“ Er hätte sich gewünscht, dass dem Täter zumindest noch Sozialstunden auferlegt worden wären. So hätte er aktiv werden und Dienst an der Gesellschaft leisten müssen. Rickels hat die Initiative „First Togetherness“ gegründet. Er setzt sich für ein gutes Miteinander ein und führt viele Präventionsveranstaltungen durch.
Dass Täter-Opfer-Ausgleich und Restorative-Justice-Programme nicht nur bei leichter Kriminalität, sondern auch bei mittleren und schweren Straftaten wirken, erläuterte Tobias Merckle, geschäftsführender Vorstand des Seehaus e. V., anhand von zwei internationalen Beispielen. „In Ruanda haben am Genozid beteiligte Straftäter die volle Wahrheit aufgedeckt, um Vergebung gefragt und nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis Häuser für die Hinterbliebenen der Getöteten gebaut.“ Danach hätten die Opfer den Tätern geholfen, Wohnraum für sich zu schaffen. Gemeinsam würden sie jetzt in „Dörfern der Versöhnung“ friedlich und genossenschaftlich zusammenleben. In Kolumbien nehmen laut Merckle ehemalige Guerilleros und Paramilitärs gemeinsam mit Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts am Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ teil und bauen miteinander zerstörte Infrastruktur auf.
Merckle wünscht sich, dass auch in Deutschland solche Restorative-Justice-Programme bei allen Deliktsarten zur Anwendung kommen und die Opferperspektive und Wiedergutmachung in den Mittelpunkt des Strafrechts und des Strafverfahrens rücken. Opfer sollten vor, während und nach Abschluss des Verfahrens an Restorative Justice Programmen teilnehmen können und unkompliziert Hilfe erhalten.
Merckle leitet das Seehaus Leonberg, einen Jugendstrafvollzug in freien Formen, das inzwischen auch einen Ableger in Leipzig hat. Im Konzept beider Einrichtungen spielen Elemente aus dem Bereich Restorative Justice eine wichtige Rolle. Die jungen Männer werden mit den Folgen ihrer Straftaten konfrontiert, ihnen wird die Opferperspektive vermittelt und sie leisten gemeinnützige Arbeit als Wiedergutmachung der Gesellschaft gegenüber. Sie können auch am Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ teilhaben und auf diese Weise das Vergangene besser verarbeiten. Seehaus e.V. bietet inzwischen auch Opferempathietraining in Gefängnissen an. Für Straffällige, die Sozialstunden ableisten müssen, offeriert Seehaus e.V. eine sozialpädagogische Begleitung – so wie Rickels es forderte.
Bei den Strafvollzugsbeauftragten von vier baden-württembergischen Landtagsfraktionen stößt die beim Fachtag vorgebrachte Forderung nach mehr Restorative Justice auf offene Ohren. Dies wurde bei einer von Christian Ricken, Vorstand der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg, moderierten Podiumsdiskussion zum Abschluss der Veranstaltung deutlich. An ihr nahmen Jürgen Filius (Bündnis 90/Die Grünen), Karl Zimmermann (CDU), Jonas Weber (SPD) und Ulrich Goll (FDP) teil.
„Wir brauchen ein ausgeprägtes Restorative-Justice-Denken“, betonte der ehemalige baden-württembergische Justizminister Goll. Das Seehaus Leonberg nannte er als Flaggschiff des Strafvollzugs im Land. Man könne dafür gar nicht genug Werbung machen. Über den Täter-Opfer-Ausgleich sagte er, dass dieser bisher leider sehr stiefmütterlich behandelt worden. „Es ist wichtig, die Opferperspektive sichtbar zu machen. Dafür leistet der Täter-Opfer-Ausgleich einen wertvollen Beitrag. Ich halte ihn für eine gute Sache, die aber sehr aufwendig ist und eine fachkundige und dauerhafte Begleitung erfordert.“
Der Grünen-Politiker Filius ist nach eigenen Worten ebenfalls begeistert vom Seehaus-Konzept. „Es müsste noch viel mehr Projekte dieser Art geben“, sagte er. Er bedauere, dass Restorative Justice noch nicht so im Gesetz verankert sei, wie er sich das wünsche. „Elemente wie der Täter-Opfer-Ausgleich sollten viel häufiger angewendet werden. Wichtig ist jedoch, dass dies auf freiwilliger Basis geschieht.“ Grundsätzlich sei ein Kapitalverbrechen wie Mord nicht wieder gutzumachen. In diesem Fall greife der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ein und versuche die Tat angemessen zu sühnen. Dennoch entspreche es der im Grundgesetz verankerten Würde des Menschen, wenn ein Täter nach der Verbüßung der Straftat eine neue Chance bekomme, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Nach Ansicht von Filius sollte beim Referendariat von Juristen mehr Bewusstsein für Maßnahmen wie der Täter-Opfer-Ausgleich geschaffen werden.
Der CDU-Abgeordnete Zimmermann zeigte sich ebenso aufgeschlossen gegenüber den Ansätzen von Restorative Justice. „Am besten ist, wenn die Strafe einer Tat auf dem Fuße folgt“, machte er deutlich. Oft dauere es zu lange, bis es zu einer Verurteilung komme. Das führe dazu, dass bei manchen Tätern der unmittelbare Bezug zu ihrem Vergehen verlorengehe. Aus diesem Grund plädierte Zimmermann dafür, einen Täter-Opfer-Ausgleich nicht zu spät durchzuführen, wenn man ihn in Betracht ziehe. Er regte an, neben der Bewährungshilfe auch die Polizei für dieses Thema zu sensibilisieren. „Dort findet ja in der Regel der erste Kontakt mit dem Täter statt.“ Möglicherweise könnten Leute von weiteren Straftaten abgehalten werden, wenn sie frühzeitig eine Form von Wiedergutmachung leisten und sich mit ihrer Tat auseinandersetzen müssen.
Nach Meinung von SPD-Vertreter Jonas Weber gilt es alles dafür zu tun, um den Rechtsstaat zu stärken. „Dazu braucht es vorbildliche Einrichtungen vor Ort, wie das Seehaus hier in Leonberg“, sagte er. Weber warb bei der Podiumsdiskussion vor allem dafür, sich verstärkt für die Belange von Opfern einer Straftat einzusetzen. „Sie werden leider oft sehr lange mit ihren Sorgen und Nöten alleine gelassen. Dabei wäre es notwendig, dass sie alle Unterstützung bekommen, die sie benötigen. Wir haben im Prinzip viele gute Instrumente. Nur müssen wir überlegen, wie wir sie zu den Betroffenen bringen“, erklärte er. Um deren Belange gebündelt in der Öffentlichkeit vertreten, sollte endlich ein Landesopferbeauftragter berufen werden, appellierte Weber.
Axel Jeroma
Alles rund um den Fachtag 2019 mit allen Vorträgen zum Herunterladen
Der Fachtag wurde vom DBH, dem Justizministerium Baden-Württemberg, der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg, dem Verband Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg und Seehaus e.V. durchgeführt.