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Köngener Kanzelrede: „Jeder kann Hoffnungsträger sein“

In seiner Kanzelrede am Buß- und Bettag stellt Tobias Merckle den „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ vor.

Von Peter Dietrich

KÖNGEN. Immer am Buß- und Bettag steigt ein Nichtpfarrer die Stufen zur Kanzel der Köngener Peter-und-Pauls-Kirche hinauf. Diesmal war Tobias Merckle zu Gast, Gründer des Seehauses Leonberg, einer Modelleinrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Das lag auf doppelte Weise nahe: Zum einen kennen sich Pfarrer Ronald Scholz und Merckle seit Langem persönlich, zum anderen haben Buße, Umkehr, Vergebung und Neuanfang sehr viel mit dem Strafvollzug zu tun – wenn er denn sein Ziel erreicht.

Wie er das nicht tut, das erlebte Merckle im Sozialen Jahr in den USA, in der Arbeit mit Drogenabhängigen. Er besuchte einen Jugendlichen, der nach der Drogentherapie ins Gefängnis musste, konnte einen Blick in eine Gefängniszelle werfen und dachte: „Das kann es nicht sein, irgendwann kommen die heraus und sind wahrscheinlich krimineller als vorher. Da sollte man etwas tun.“ Schnell erkannte er, dass er selbst dieser „man“ war, dass er es nicht nur mit seinen eigenen Gedanken zu tun hatte, sondern mit einer göttlichen Berufung.

Tobias Merckle gibt jugendlichen Straftätern eine Chance. Foto: Dietrich

Foto: Dietrich

Bis seine Vision Wahrheit wurde, vergingen lange Jahre: Merckle studierte Sozialpädagogik und arbeitete in England mit Gefangenen. Dann gründete er das Seehaus in Leonberg, inzwischen gibt es auch ein Seehaus Leipzig. Das Seehaus ist eine Einrichtung ohne Mauern und Gitter. Aber die Jungs dürfen das Gelände beim „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ nicht verlassen – eine Übertretung wäre für sie der sofortige Rückweg ins Gefängnis. „Bei uns entsteht die Sicherheit nicht durch Mauern, sondern über Beziehungen, Vertrauen und Verantwortungsübergabe“, sagt Merckle. Jugendliche zwischen 14 und 23 Jahren, die bereit sind, an sich zu arbeiten, können sich im Gefängnis für das Seehaus bewerben. Nach Zustimmung des Anstaltsleiters verbringen sie ihre gesamte Haftzeit im Seehaus. Sie werden dort in eine Familie aufgenommen. „Viele erleben das erste Mal in ihrem Leben eine funktionierende Familie. Gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsames Spielen, das kennen die gar nicht. Es ist nicht selbstverständlich, Eltern zu haben, die sich um einen kümmern – wenn einer den Vater gar nicht kennt und die Mutter alkoholabhängig ist.“

Der Alltag im Seehaus ist streng durchstrukturiert. Gäste beim Frühsport sind stets willkommen – immer um 5.45 Uhr. Merckle bewies, dass er bei aller ernsten Arbeit seinen Humor behalten hat. Schon als Kind habe er hinter Gittern gelebt, sagte er, und zeigte ein Bild von sich im Laufstall. „Ich bin in einer Unternehmerfamilie aufgewachsen, das hat mich sehr geprägt. Das Thema Verantwortung stand im Vordergrund: für die Firma, für die Mitarbeiter, für die Gesellschaft.“ Er wuchs zudem in der kirchlichen Jugendarbeit auf.

„In unserem Justizsystem kommt die Opferperspektive gar nicht vor. Das ist aus unserer Sicht falsch, die Opfer müssten im Mittelpunkt stehen.“

Im freiwilligen Gespräch zwischen unbeteiligten Opfern und Tätern wird manchem Täter im Seehaus das erste Mal bewusst, was seine Tat für das Opfer bedeutet. Opfer wollen wissen, was in einem Täter vorgeht, und bekommen einige von ihren Fragen beantwortet. „In unserem Justizsystem kommt die Opferperspektive gar nicht vor“, bedauert Merckle. „Das ist aus unserer Sicht falsch, die Opfer müssten im Mittelpunkt stehen.“ Stattdessen würden viele Täter von ihrem Anwalt so beraten, dass sie das Opfer als unglaubwürdig darstellen und alles abstreiten sollen. „Da wird keine Einsicht, da wird keine Buße, wird keine Umkehr erzeugt.“

Merckle wünscht sich einen anderen Umgang. Der Täter solle sich damit auseinandersetzen: „Was habe ich den Opfern angetan?“ Der Sozialpädagoge Merkle weiß aus den Begegnungen: „Wenn einer fünf oder sechs Opfern gegenübersitzt, das geht unter die Haut. Dass das Opfer noch 20 Jahre nach der Tat darunter leidet, das machen sich die Täter überhaupt nicht bewusst.“

Viele der Jugendlichen holen im Seehaus den Hauptschulabschluss nach. Es gibt eine Zimmerei, Metallbau und Garten- und Landschaftsbau. „Bisher konnten wir 98 Prozent in Ausbildung und Arbeit vermitteln. Wer ein Praktikum bekommt, kann sich dort beweisen und hat es geschafft.“ Gemeinnützige Arbeit gehört ebenfalls zum Programm, als Wiedergutmachung gegenüber der Gesellschaft.

Die Vermittlung christlicher Werte geschieht im Seehaus ebenfalls, die vielen Ehrenamtlichen bilden eine Brücke in die Gesellschaft. „Wir suchen auch ganz dringend FSJler und Bufdis“, nutzt Tobias Merckle die Plattform der Kanzel in der Köngener Peter-und-Pauls-Kirche, um auf diesen Mangel aufmerksam zu machen. Inzwischen gibt es zusätzlich eine Opfer- und Traumaberatung an verschiedenen Orten.

2013 hat Merckle zudem die Hoffnungsträger-Stiftung gegründet. Sie organisiert integratives Wohnen, Deutsche und Geflüchtete 50 zu 50 gemischt. Inzwischen sind an zehn Standorten rund
30 solcher „Hoffnungshäuser“ entstanden, in denen Fremde Freunde werden.

Seit Februar 2022 ist die Stiftung auch in der Ukraine-Nothilfe aktiv und will künftig beim Wiederaufbau helfen. Das Opfer des Gottesdienstes war für die Arbeit mit Strafgefangenen und deren Kindern in Kolumbien bestimmt. Um zu helfen, muss aber keiner in die Ferne schweifen: „Jeder kann Hoffnungsträger sein, an dem Ort, wo er ist“, machte Merckle den Zuhörern Mut. Die
Zuhörer blieben danach noch etwas sitzen, denn es gab nochmals die Orgelmusik des Tübinger Stiftsmusikdirektors Frank Oidtmann zu genießen.

(mit freundlicher Genehmigung der Nürtinger Zeitung / Wendlinger Zeitung, erschienen: Freitag, 18. November 2022, S.16, PDF des Original-Artikels)


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