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Hauselternwechsel Seehaus Leipzig, Teil 1: Abschied//Blick zurück

Familienleben in einer Wohngemeinschaft mit bis zu 7 strafgefangenen jungen Männern teilen: Die beiden langjährigen Hauselternfamilien Steinert (seit 2012) und Viehweger (seit 2018) übergeben den Staffelstab an die nächste Generation. Im Interview blicken sie auf die vergangenen Jahre zurück – und was ihnen von ihrer Arbeit besonders in Erinnerung bleiben wird.

Warum habt ihr aufgehört?

Familie Viehweger

Viehwegers: Wir hatten uns von Anfang an gesagt, dass wir im Kopf von fünf Jahren ausgehen und dann weitersehen. Wir haben dann gemerkt, dass das Familienleben mit zwei Teenagern (unsere Söhne sind 12 und 13 Jahre alt) und das Leben auf der WG sich Stück für Stück auseinanderbewegt hat und beschlossen im Sommer 2023 aufzuhören. Dann waren aber im Sommer 22 unsere Belegungszahlen so, dass die beiden WGs zusammengelegt wurden und wir andere Aufgaben innerhalb des Seehauses übernommen haben. Das kam sehr plötzlich für uns, wir sind aus dem Urlaub wiedergekommen und waren zwei Tage später keine Hauseltern mehr.

Franz Steinert: Steffi hatte vor 2, 3 Jahren den Eindruck: „Noch mal 7 Jahre Hauseltern werden es glaube ich nicht.“ Da war ich (Franz) erst mal kurz erschrocken – mir wurde bewusst, dass es ein Leben nach dem Hauselternsein gibt :-) Dann haben wir überlegt, was nach unserem Gefühl und für das WG-Team ein guter Ausstiegszeitpunkt wäre. Und uns für die Winterferien 2023 entschieden. Bei Steffi war der Eindruck gereift, dass es Zeit für was Neues ist. Mehr exklusive Zeit für die eigenen Kinder zu haben, war auch ein Aspekt. Und ein Gedanke war, „wir wollen gehen, wenn’s Spaß macht“. Das hat es bis zum Schluss!

Was haben eure Kinder dazu gesagt?

Viehwegers: Eine der ersten Frage war: „Können wir dann trotzdem noch bei der Ostertour dabei sein?“ gefolgt von: „Bleiben wir im Seehaus wohnen?“

Steinerts: Für unsere drei Kinder (10, 8 und 6 Jahre) war die Vorstellung ohne WG zu leben erst mal völlig fremd. Sie sind ja alle drei ihr Leben lang mit den jungen Männern zusammen aufgewachsen und kennen nix anderes. Eine Frage war z.B.:

„Papa, wo essen wir denn dann, wenn wir nicht mehr in der WG sind?“
„Na in unserer Wohnung.“
„Ach so, wie im Urlaub?“
„Ja, wie im Urlaub.“
;-)

Unser Sohn hat gefragt, ob er dann nicht zumindest zu seinem Geburtstag in der WG Frühstücken kann – da hat er immer alles feierlich dekoriert vorgefunden und unter den „Ah’s“ und „Oh’s“ der jungen Männer seine Geschenke ausgepackt. Die Kinder hatten die Sorge, dass wir vom Seehaus-Gelände ziehen und nicht mehr Teil der Lebensgemeinschaft sind. Sie wussten, dass wir aus der Hauselternwohnung raus müssen. Dass wir auf dem Gelände wohnen bleiben, hat sie etwas beruhigt. Die Freunde hier bleiben ihnen erhalten und die jungen Männer kann man immerhin weiterhin besuchen und mit ihnen Tischkicker und Darts spielen oder sie zum Fußball spielen aus der WG locken…

Wie schwer ist euch der Abschied gefallen?

Viehwegers: Richtig, richtig schwer. Vor allem, weil es so abrupt kam und man sich nicht darauf einstellen und Dinge bewusst zum letzten Mal erleben oder wahrnehmen konnte. Die ersten Tage war es hart, an der WG vorbeizugehen und zu wissen, das ist jetzt vorbei, diese Zeit kommt nie wieder. Dann haben wir an einem Tag all unseren persönlichen Kram, der noch in der WG war, rausgeholt, alle Fotos abgehängt etc. und als wir dann in der „nackten“ WG standen, ging es uns besser, dass war dann unser bewusster Abschied.

Letztes WG-Steinert-Familien-Bild 2023

Franz Steinert: Die Entscheidung vor 2 Jahren, den Ausstieg zu planen, war mit Abschiedschmerz verbunden. Langsam habe ich dann registriert, welche Freiheiten das Leben ohne WG für mich persönlich und für uns als Familie bedeutet: Aus dem Büro kommen und frei haben, statt in der WG in die nächste Verantwortung zu kommen. Jedes Wochenende frei haben! Jeden Abend frei haben! Mehr Zeit für Hobbys, Erholung und die eigenen Kids …das hat den Abschiedschmerz dann langsam gelindert und eine gewisse Vorfreude ist gewachsen. Bis zum Schluss sind es aber sehr gemischte Gefühle geblieben…wir haben gerade eine super Truppe mit 6 jungen Männern, guter Grundstimmung, gesunder Reibung, grundsätzlichem Respekt füreinander und viel Witz und Humor. Da fällt mir das Abschied nehmen nicht leicht… aber das ist ja auch ein gutes Zeichen, das wir uns in etwas Wertvolles, Bedeutungsvolles investiert haben.

An was erinnert ihr euch gern, was werdet ihr vermissen?

Viehwegers: Die großen, lebhaften Tischrunden, Spieleabende, das „Nah-dran-sein“ an den jungen Männern und den Jahresmitarbeitern, kochen für mehr als vier Personen (fällt mir gerade immer noch schwer, wir essen manchmal tagelang Reste ), unser tolles WG-Team.

WG Viehweger mit Vollbesetzung 2019

Steinerts: An das Rumalbern und -toben der jungen Männer mit unseren Kindern. Wie unsere Tochter mit dem Spielzeugarztkoffer die jungen Männer verarztet. Oder in der Sofadecke eingewickelt von zwei Jungs durch die Luft geschwungen wird. An emotionale 4-Augen-Gespräche mit den jungen Männern – nach Konflikten, nach Enttäuschungen oder nach Erfolgserlebnissen. Das allmorgendliche und allabendliche Umarmen mit den jungen Männern beim Begrüßen und Verabschieden. Das freundschaftliche Raufen. Zusammen lachen. Zusammen weinen. Zusammen nach Lösungen suchen. Zusammen scheitern. Zusammen neu starten. Erleben, wie Hoffnung zum Leben erweckt wird. Erleben, wie Liebe und Vertrauen Mut machen, Fesseln lösen, neues Denken anregen. Versöhnung erleben. Gemeinsames Essen & Erzählen am großen WG-Tisch. Die glänzenden Augen meines Sohnes, wenn er beim Tischkicker gegen die großen Jungs gewinnt. Flache Witze und Insider mit den Jungs austauschen. Die Durchsetzungstärke meiner sonst eher zurückhaltenden Frau erleben, wenn sie den jungen Männern die Stirn bietet. Gemeinsam Weihnachten feiern – wie werden wir Weihnachten mit den Kindern ohne die Jungs verbringen – sowas gab es noch nie?! Entwicklungsprozesse der jungen Männer hautnah miterleben. Mit den jungen Männern joggen gehen und ihre Leidenschaft für das Laufen entfesseln. Mit den Kollegen im WG -Team über die Entwicklung der jungen Männer reflektieren und staunen. Herausgefordert sein, bedingungslos zu lieben. Ein Satz, an den ich mir selbst oft sagen musste: „Ich lasse mir doch von deinem Verhalten nicht vorschreiben, ob ich dich lieb hab!“

Familienausflug WG Steinert

Was vermisst ihr nicht?

Viehwegers: Das Leben nach einem strikten Zeitplan und so manche Besprechung…

Steinerts: Anstrengende Klärungsgespräche mit den jungen Männern, wenn Sachen hinten rum gelaufen sind. Die 20ste Diskussion, warum der Wäschedienst nicht klappt oder wer vergessen hat, das Brot aufzutauen. Zimmerdurchsuchungen. Rückführungen junger Männer in den geschlossenen Vollzug und das meist emotional extrem anstrengende Ringen im Vorfeld darum, andere Wege zu finden. Nach einem ungelösten Konflikt mit tausend Gedanken ohnmächtig ins Bett gehen. Abends erschöpft vom Arbeitstag in die WG kommen und mit schlechter Stimmung begrüßt werden.

Worauf freut ihr euch?

Viehwegers: Anders Zeit für die eigenen Kinder zu haben. Die beiden kommen an vielen Tagen erst gegen 16:00 aus der Schule und dann nicht gleich auf WG zu gehen, sondern auch Zeit zu haben sie bei schulischen Fragen zu unterstützen etc., nicht zerrissen sein zwischen WG und Kids – das ist echt schön.

Steinerts: Mehr Zeit haben, die wir indivduell und exklusiv mit unseren Kindern gestalten können. Mit den jungen Männern punktuell Zeit zu verbringen und die Verantwortung für sie dann wieder an die neuen Hauseltern abgeben zu können.

Was war der schwerste/schönste/verrückteste Moment in eurer Zeit als Hauseltern?

Viehwegers: Da waren so viele, das kann ich gar nicht genau benennen . Besonders war auf jeden Fall, als ich (Susi) einen jungen Mann zur Geburt seines Kindes ins Krankenhaus begleiten durfte. Es gab coole, verrückte Sachen wie Bobbycar-Rennen im Dunklen oder Eisbaden. Rückführungen, eine Entweichung und Abschiede zählen zu den weniger schönen Momenten.

Weihnachten in der WG Steinert

Franz Steinert: Ein verrückter Moment: Ein junger Mann drohte nach einem länger schwelenden Konflikt: „Mir reicht’s. Ich hab die Schnauze voll. Ich geh jetzt.“ Anstatt meinem ersten Impuls zu folgen und ihn auf die Folgen hinzuweisen habe ich ihm gesagt, dass er gern gehen könne, aber ich würde ihn begleiten. Er ist dann losgelaufen und ich bin im Abstand von 2, 3 Metern immer hinter ihm her. Nachdem wir so wortlos ca. 2 km gelaufen waren blieb er stehen und sagte: „Franz, das ist doch lächerlich.“ Das habe ich im mit einem Lachen bestätigt, in das er dann, immer noch halb beleidigt, mit eingestimmt hat. Dann sind wir zurück ins Seehaus gelaufen. Wir sehen uns ab und zu – und heute, viele Jahre später, können wir beide herzhaft drüber lachen :-D

Schwere Momente: Jede Rückführung/jeder Abbruch eine jungen Mannes hat weh getan, auch wenn manchmal angesichts der vorherigen, anstrengenden Konflikte ein Gefühl der Erleichterung dabei war. Es ist für uns als Familie immer ein Verlust gewesen. Und auch mit einem Gefühl des Scheiterns verbunden. Das ist nie zur Routine geworden, sondern immer tragisch und traurig geblieben.
Bewegende Momente: Ein besonders verhaltensauffälliger und oft empathielos wirkender junger Mann hat von meiner Frau einen sehr persönlichen Brief bekommen. Als er ihn studierte, musste er bewegt vom Inhalt weinen, noch während er ihn las. Ein anderer junger Mann hatte im Corona-Lockdown richtig die Nase voll von der ganzen Unsicherheit mit Maske und Co. und hat seine schlechte Laune an allen ausgelassen, die in seiner Nähe waren. Meine Frau hatte sich als Hygienebauftragte in Absprache mit dem Gesundheitsamt noch um möglichst praktikable Regelungen für die jungen Männer bemüht. Als sein Ärger dann verflogen war, gab’s eine kleine Entschuldigungsrede und einen Blumenstrauß für Steffi. Das war bewegend! Ein junger Mann hat uns Jahre nach seiner Entlassung zu seiner Hochzeit eingeladen – die war wunderschön. Ein anderer junger Mann hat mit mir einige Zeit nach seiner Entlassung am Telefon die Trennung von seiner damaligen Freundin betrauert und ca. ein Jahr später die Geburt seines Kindes gefeiert – beides sehr besondere und lange Gespräche, die sich mir eingebrannt haben.

Wie geht’s weiter?

Viehwegers: Wir bleiben im Seehaus und werden weiter hier wohnen und arbeiten. René als Hausmeister und Susi als pädagogische Leitung.

Steinerts: Franz war ehrenamtlich Hausvater. Hauptamtlich hat er im Seehaus in Teilzeit im Bereich Kommunikation und Zugang gearbeitet. Das macht er weiterhin. Steffi geht in Elternzeit. Wir bleiben als Famillie auf dem Gelände wohnen und freuen uns, weiterhin Teil der Seehaus-Lebens- und Dienstgemeinschaft zu sein.

Januar 2023