Wiedereingliederungsprojekte in Kolumbien
Tobias Merckle, Leiter des Seehaus Leonberg, hat vor einigen Tagen in Kolumbien wichtige Gespräche über den Aufbau von Wiedereingliederungsprojekten für Mitglieder der FARC-Guerilla geführt. Eine entsprechende Anfrage hatte die ehemalige Rebellenorganisation vor Kurzem an Prison Fellowship Kolumbien, die Partnerorganisation des Seehaus e.V., gerichtet. Es gibt nun Überlegungen, wonach die Hoffnungsträger Stiftung, deren Stiftungsratsvorsitzender Merckle ist, Grundstücke kauft, um derartige Projekte zu betreiben. Derzeit laufen entsprechende Verhandlungen. Die Projekte wären nach Ansicht von Tobias Merckle ein erster Schritt zur Wiedereingliederung der Guerilla-Kämpfer, da von Seiten der Regierung da bisher wenig passiert ist. Prison Fellowship Kolumbien verfügt über viel Erfahrung in der Wiedereingliederung von Gefangenen und in der Versöhnungsarbeit zwischen Guerillas, Paramilitärs und Opfern des 52 Jahre dauernden Konflikts. Die Erfahrung baut auf dem Programm „Opfer und Täter im Gespräch“, das auch im Jugendstrafvollzug in freien Formen im Seehaus Leonberg praktikziert wird. Prison Fellowship führt das Programm landesweit in den Gefängnissen durch. Ermöglicht wird dies durch die Hoffnungsträger Stiftung, die Spenden für das Projekt sammelt und weiterleitet.
Bei seinem Besuch im Gefängnis in Barranquilla erlebte Merckle eindrücklich die positiven Auswirkungen des Programms, wie Leben von Opfern und Tätern verändert werden, Vergebung möglich wird und auf beiden Seiten wieder neuer Lebensmut entsteht. Die Geschichten der Beteiligten sprechen für sich:
José und Sofanor
Sofanor wurde gegenüber José immer wieder gewalttätig. Einmal schlug er ihm mit einem Stein auf den Kopf. Daraufhin beschloss José, ihn umzubringen. Er ging mit einer Pistole zu dessen Haus lockte ihn heraus und schoss ihn nieder. Sofanor überlebte, musste jedoch einige Operationen über sich ergehen lassen und ist seitdem querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Er kann seine Familie nicht mehr versorgen. José nahm im Gefängnis am Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ teil. Dies änderte sein Leben und seine Einstellung Sofanor gegenüber. Nach seiner Entlassung ging er mit Hilfe von Prison Fellowship Kolumbien auf ihn zu, um ihn um Vergebung zu bitten. Nach einigen Gesprächen und einem schwierigen Prozess konnten sie sich schließlich vergeben. Seitdem kümmert sich José um Sofanor. Sie sind zu guten Freunden geworden. Sofanor ist durch den Prozess seinen Hass und Rachegelüste losgeworden und hat neue Lebensfreude gefunden. José ist Taxifahrer und fährt Sofanor regelmäßig dorthin, wo er sonst nicht hinkommen würde. Beide sind inzwischen Ehrenamtliche von Prison Fellowship und erzählen ihre Geschichte bei verschiedenen Gesprächsrunden im Rahmen des Programms „Opfer und Täter im Gespräch“. So wollen sie anderen Mut machen, wie sie aufeinander zuzugehen und sich zu vergeben.
Jhoyka und Fabio
Jhoyka war Anführer einer „BaCrim“, einer kriminellen Bande. Er war Berufskiller und hatte Leute umgebracht – auch im Auftrag der Polizei.
Fabio war Chef einer „Barra Brava“-Gruppe, einer kolumbianischen Variante von Hooligans. Er tötete Menschen, nur weil sie das falsche Fußball-Shirt anhatten.
Jhoyka ermordete den besten Freund von Fabio. Fabio rächte sich mit dem Mord an Jhoykas bestem Kumpel. Jhoyka kam zuerst ins Gefängnis. Er nahm an einem Programm von Prison Fellowship teil. Dadurch schwor er der Gewalt ab und ist Leiter der Gefangenen-Kirchengemeinde. Als Fabio ins gleiche Gefängnis kam, hatte er Angst, dass Jhoyka ihn umbringen würde. Aber er kam stattdessen auf ihn zu und fragte ihn um Vergebung. Sie nahmen dann beide am Progamm „Opfer und Täter im Gespräch“ teil. Sie konnten sich vergeben und sind jetzt Freunde. Karen, die Frau von Jhoyka, berichtet, dass sie ihn kaum wiedererkannt hat. Sie glaubte ihm zunächst nicht, dass er sich geändert hat. Mit der Zeit wusste sie aber, dass er es ernst meint. Dies hat auch ihr Leben verändert.
Nehemia
Nehemia hasste schon als Kind seine Mutter dafür, wie schlecht sie ihn behandelte. Er ging dann zur Armee und danach zu den Paramilitärs. Dort diente er sich langsam hoch und wurde zum obersten Kommandeur des „Bloque Norte“, einer Einheit der Paramilitärs. Damit ist er für viele Massaker und über 1600 Morde verantwortlich. Eines trug sich in Nueva Venecia zu, einem Dorf inmitten von Wasser. Das Dorf mit 400 Familien erreicht man erst nach zwei Stunden Fahrt mit einem Boot. Die Häuser sind auf Stelzen gebaut und auch von einem Haus zum anderen kann man nur mit dem Boot fahren. Am 22. November 2000 gab Nehemia dort den Befehl zu einem Massaker. 39 Fischer mussten sterben, weil er sie verdächtigt hatte, den FARC-Guerillas Unterschlupf zu geben. Nehmia war im Gefängnis und ist inzwischen nach zwölfjähriger Haft auf Bewährung entlassen worden. Als er noch im Gefängnis war, nahmen er und andere Kommandeure der Paramilitärs an einem Vorbereitungskurs für das Programm „Opfer und Täter im Gespräch“ teil. Dabei trafen sie sich im Gefängnis auch mit 20 Opfern von Nueva Venecia und zwei weiteren Dörfern, in denen Massaker stattgefunden haben. Sie bekannten ihre Schuld und baten um Vergebung. Sie wollen auch praktische Wiedergutmachung leisten, indem sie eine Schule in einem der Dörfer aufbauen.
Die Bewohner von Nueva Venecia haben Tobias Merckle tags darauf von dem Treffen berichtet. Es tat ihnen gut, dass endlich die Wahrheit ans Licht gekommen war, Nehemia und die anderen ihre Schuld öffentlich eingestanden und sie um Vergebung gefragt hatten. Dies kann das Geschehene nicht rückgängig machen, aber es war für sie wie eine Befreiung.
Franklin und Alvaro
Franklin war ebenfalls ein Kommandeur bei den Paramilitärs und danach bei einer „BaCrim“, einer kriminellen Bande. Auch er ist verantwortlich für viele Tote und für viele Vertreibungen. Viele Familien sind aus Angst vor seiner Gruppe geflohen, haben alles hinter sich gelassen und mussten sich etwas Neues aufbauen.
Franklin war auch direkt verantwortlich für die Vertreibung der Familie von Alvaro. Alvaro berichtete von der Leidensgeschichte seiner Familie. Er hat am Programm Opfer und Täter im Gespräch teilgenommen und konnte dadurch innerlich frei werden, da ihn nicht mehr Hass und Gedanken an Rache zerfressen. Allerdings geht das nicht allen in der Familie so. Franklins Mutter kann und will nicht vergeben. Sie leidet weiter unter den Folgen der Vertreibung. Franklin hat nochmals öffentlich seine Schuld bekannt und bei Alvaro um Vergebung nachgesucht.
Solche Wiedereingliederungsprojekte machen Hoffnung!