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Bezhan ist stolz auf die Mittlere Reife

Bezhan – ein junger Mann, der als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen und von Seehaus-Mitarbeitern begleitet worden ist, hat dieses Jahr die zweijährige kaufmännische Berufsfachschule mit der Mittleren Reife abgeschlossen und im September eine Ausbildung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann in einer Firma in Weil der Stadt begonnen. Nach wie vor lebt Bezhan in einer vom Seehaus vermittelten Gastfamilie. Was sie ihm bedeutet, welche kulturellen Unterschiede er zwischen Deutschland und seiner afghanischen Heimat wahrgenommen hat und wie seine Pläne und Wünsche für die Zukunft aussehen, erzählt er in einem Interview, das Seehaus-Mitarbeiterin Birgit Wagner mit ihm geführt hat.

Bezhan, zuerst einmal herzlichen Glückwunsch! Du hast dieses Jahr die zweijährige kaufmännische Berufsfachschule mit der Mittleren Reife abgeschlossen. Das ist eine tolle Leistung. Warst du zufrieden mit deinem Zeugnis?

Ich war sehr zufrieden und fühlte mich vor allem erleichtert. Ich war aber auch froh, als nach dem Prüfungsstress alles vorbei war. Die letzten Wochen vor der Prüfung dachte ich nur noch ans Lernen. Danach war ich wesentlich entspannter.

Wie ging es dann im Herbst weiter?

Am 1. September habe ich mit meiner Ausbildung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann in Weil der Stadt angefangen. Die Arbeit macht mir sehr viel Spaß. Parallel zu meiner Ausbildung würde ich gerne die Fachhochschulreife machen. Mal sehen, ob ich das schaffe. Ich will es zumindest versuchen. Aber zunächst konzentriere ich mich auf die Ausbildung, die ich hoffentlich erfolgreich abschließen werde.

Wir vom Seehaus e. V. konnten dich in eine Gastfamilie vermitteln, als du nach Deutschland kamst. Was schätzt du besonders am Leben in einer Gastfamilie?

Besonders wichtig finde ich den Zusammenhalt. Mir bedeutet Familie sehr viel. Ich bin einfach der Typ Familienmensch. Das war schon immer so, auch in Afghanistan. Ich bin sehr froh, dass ich hier in Deutschland eine neue Familie gefunden habe. Die drei Kinder der Gastfamilie waren von Anfang an offen und genießen es sehr mit mir zu spielen. Ich auch. Die Jüngste kann sich gar nicht mehr an ein Leben ohne mich erinnern. Für sie gehöre ich als großer Bruder einfach dazu. Ich fühle mich gar nicht wie ein Gast, sondern wie ein vollwertiges Familienmitglied.

Die Gasteltern sind stets für mich dagewesen. Ich wusste, dass ich immer mit ihnen reden kann. Egal was mich beschäftigt hat, ich konnte mit allen Fragen zu ihnen kommen. Ich habe mich nie fremd gefühlt, sie haben immer geholfen. Auch für die Verwandten gehöre ich dazu. Das merkt man bei Besuchen und Festen. Das ist toll. Wir sind mittlerweile ein richtig deutsch-afghanischer Haushalt. Die Gastmutter und die Kinder tragen zu afghanischen Festen manchmal die traditionellen afghanischen Kleider, die ich ihnen geschenkt habe. Das freut mich sehr.

Gab es auch die eine oder andere Herausforderung zu bewältigen im Zusammenleben?

Ja, klar. Vor allem am Anfang. Wir wussten einfach zu wenig von der Kultur des anderen. Da gab es immer wieder mal Missverständnisse. Ich war es zum Beispiel nicht gewohnt, andere beim Reden anzuschauen. Es gilt bei uns in der Kultur als respektlos, älteren Leuten direkt in die Augen zu blicken, besonders bei den Eltern würde man das nie machen.

Ein anderes Beispiel war der Umgang mit Fehlern. In unserer Kultur ist es nicht üblich, sich verbal zu entschuldigen. Das wäre eine Art Gesichtsverlust. Man bringt sein Bedauern zum Ausdruck, indem man zum Beispiel anschließend etwas Gutes tut.

Wir haben in der Gastfamilie viel miteinander geredet, um solche Probleme auszuräumen. Wir haben viel gefragt, warum der andere sich so oder so verhält. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man offen bleibt und keine Vorbehalte hat. Die Gasteltern und ich hatten immer ein Interesse daran, mehr von der Kultur des anderen zu verstehen und zu lernen.

Du hast ja auch Kontakt zu deiner Familie in Afghanistan. Wie finden sie es, dass du in Deutschland in einer Gastfamilie lebst?

Meine afghanischen Eltern freuen sich, dass ich jemanden habe, der mich auf meinem Weg unterstützt und für mich da ist. Sie wissen, dass mir die deutsche Gastfamilie hilft. Sie sind froh, dass hier jemand die Aufgaben übernimmt, die sie sonst wahrnehmen würden. Wir alle würden uns sehr wünschen, dass es irgendwann die Gelegenheit gibt, dass sich meine afghanische Familie und meine deutsche Gastfamilie kennenlernen. Das ist vielleicht nur ein Traum. Aber wer weiß…?

Wie sehen deine Pläne und Wünsche für die Zukunft aus?

Ich wünsche mir, dass ich in der Ausbildung weiter gut klar komme und später vielleicht noch ein Studium machen kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich in naher Zukunft auf eigenen Beinen stehen könnte und die deutsche Staatsbürgerschaft bekäme. Naja, und dann vielleicht noch eine nette Freundin… Mein allergrößter Wunsch wäre aber, dass meine afghanischen Eltern irgendwann mit mir in Deutschland leben könnten.


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