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Eindrückliche Projekte von Prison Fellowship Kolumbien

Prison Fellowship Kolumbien betreibt eindrückliche Projekte

Tobias Merckle, Geschäftsführender Vorstand von Seehaus e. V. und Gründer der Hoffnungsträger Stiftung ist derzeit in Kolumbien, zu Besuch bei der Partnerorganisation Prison Fellowship Kolumbien, um Projekte und die Zusammenarbeit weiterzuentwickeln. Sowohl Seehaus e. V. als auch Hoffnungsträger unterstützen diese Projekte aus den Bereichen Resozialisierung, Versöhnung und Patenschaften für Kinder und Familien von Gefangenen. In dem nachfolgenden Bericht schildert Tobias Merckle einige eindrückliche Erlebnisse und Begegnungen.

Besuch in Palermo

Viele der Bewohner dort stammen ursprünglich aus einem der Palafitos-Dörfern. Die drei Dörfer (Nueva Venecia, Buenavista y Trojas de Cataca) sind mitten im Wasser aufgebaut. Beim Besuch dort denkt man, was für eine Idylle, was für ein tolles Leben.

Doch die Idylle täuscht. Die Dorfbewohner haben in den letzten Jahrzehnten Schlimmes erlebt. Nicht nur, dass sie keine Fische mehr fangen, da dort industrieller Fischfang betrieben wird und das Wasser durch viele angesiedelte Firmen verseucht ist. Nicht nur, dass sie kein Abwassersystem haben und alle Exkremente direkt ins Wasser fließen, in dem sie schwimmen, von dem sie leben und deren Fische sie essen. Nicht nur, dass sie teilweise kein Strom haben. Das Schlimmste ist, dass sie in Unsicherheit und Angst leben mussten und viele von den Dorfbewohnern Opfer von Massaker durch die Paramilitärs wurden. Allein im November 2020 wurden 39 Dorfbewohner umgebracht, weil sie angeblich mit der FARC-Guerilla zusammengearbeitet haben.

Daraufhin sind fast alle der Dorfbewohner in die umliegenden Städte geflohen. Viele sind nach einem Jahr wieder zurückgekehrt, viele andere wohnen immer noch in Städten wie Palermo.

Unsere Partnerorganisation Prison Fellowship Kolumbien arbeitet dort mit den Dorfbewohnern als auch mit den Tätern im Rahmen des Programms ”Dörfer der Versöhnung”. Bei dem Programm kommen ehemalige Guerilla-Kämpfer, Paramilitärs, Ex-Militärs mit Opfern des bewaffneten Konflikts zusammen, nehmen an dem Programm ”Opfer und Täter im Gespräch” teil und bauen dann zerstörte Infrastruktur in den Dörfern auf und verbessern die Situation in den Dörfern. Durch die gemeinsame Arbeit für eine bessere Zukunft können sie die Vergangenheit besser hinter sich lassen und sich gemeinsam für eine bessere Zukunft einsetzen. Prison Fellowship Kolumbien hat das Programm inzwischen in 13 Kommunen umgesetzt. 1.876 Opfer und 1.009 Täter haben an dem Programm teilgenommen, über 7.000 Personen konnten von dem Programm profitieren.

Dank der Unterstützung durch das bengo-Programm des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurde es möglich, das Programm auch in den Palafitos durchzuführen. Durch die Corona-Pandemie war es zeitweise nicht möglich, Palafitos zu besuchen. Daher hat Prison Fellowship Kolumbien entschieden, auch mit den vertriebenen Palafitos-Bewohner in Palermo zu arbeiten. So können nun durch den vorübergehenden Stopp auf den Palafitos noch mehr Opfer des Konflikts an dem Programm teilnehmen. Inzwischen ist auch die Arbeit auf den Palafitos wieder möglich.

In Palermo treffen wir uns mit einer Gruppe von Opfern zu einer ersten Zusammenkunft. Sie haben von anderen im Viertel gehört, wie wertvoll die Programmteilnahme für sie war und wollen nun auch mitmachen.

Maria* und Natalia* berichten, dass ihr Bruder bzw. Schwager von den Paramilitärs umgebracht wurde, da sie die Information bekommen haben, dass er ein Informant der FARC-Guerilla sei.

Dem war aber nicht so. Weiter wurde uns von der Gewalt in dem Viertel berichtet. Sie sind aus den Palafitos hierher geflohen, da sie dachten, dass sie dann sicher seien. Das Gegenteil war der Fall. Auch in Palermo wurden viele Menschen durch die Paramilitärs und später durch bewaffnete Banden umgebracht. Viele wurden zerstückelt und die Leichenteile wurden dann auf einer Farm dem Krokodil ”Alfredo” verfüttert.

Später besuchen wir eine zweite Gruppe von Opfern, die schon an dem Programm teilgenommen haben. Gloria berichtet, dass sie dadurch zum ersten Mal von allem Leid was ihr zugestoßen ist, berichten konnte. Die Gewalt die das ganze Viertel erlebt hat ist unmenschlich. Eine kriminelle Bande hat das Viertel terrorisiert. Am 24. Oktober 2012 sind sie von Haus zu Haus und haben von jeder Familie einen Sohn mitgenommen und dann später alle erschossen – nur um zu zeigen, dass sie das Viertel beherrschen und man besser das tut, was sie sagen. Der Sohn von Gloria war 18 Jahre alt als er umgebracht wurde. Die Gewalt nahm kein Ende. 2016 hat die Bande beschlossen, jeden Tag einen Dorfbewohner umzubringen. Nach dem vierten Mordopfer kam die Polizei und auch die Presse wurde darauf aufmerksam. Gloria wurde gefragt, wer die Täter sind. Sie hat geschwiegen, da sie gewusst hat, was passiert, wenn sie aussagen würde. Zwei andere Frauen haben jedoch gesagt, was passiert war. Daraufhin hat die Bande einen Mordbefehl gegen die beiden Frauen und Gloria ausgegeben, um den Rest des Dorfes zum Schweigen zu bringen. Ein Mitglied der Bande, den sie als Kind gepflegt hat, weil seine Mutter Alkoholikerin war, hat sie gewarnt. Sie ist dann geflohen. Später erfuhr sie, dass er deswegen umgebracht wurde. Nach mehreren Jahren kam sie zurück. Inzwischen hat sie auch Arbeit gefunden. Die Angst bleibt aber. Javier, der Chef der Bande, wurde vor zwei Monaten inhaftiert, da er eine Bombe gezündet hat. Aber auch vom Gefängnis aus agiert er weiter.

Gloria hilft es sehr, dass sie mit den Mitarbeitern und der Gruppe über alles reden kann – auch über ihre aktuelle Situation und die ihrer Kinder und Enkel, die durch all die Erfahrungen psychische Probleme hatten und dann selbst kriminell wurden. Eigentlich hatte sich Gloria fest vorgenommen den Mörder ihres Sohnes umzubringen und hatte deswegen immer einen angespitzten Eisenstab als Haarnadel bei sich. Durch das Programm konnte sie ihren Hass ablegen und will nun den Täter treffen. Auch die anderen Teilnehmer berichten, wie dankbar sie für die Unterstützung von Prison Fellowship Kolumbien sind. So können sie die Vergangenheit besser bewältigen und sich auf die Zukunft konzentrieren. PFC seien die einzigen, die in ihrem Viertel für sie da sind.

José, selbst einst Straftäter und Teilnehmer des Programms Opfer und Täter im Gespräch (vgl. Buch von Christoph Zehendner), und jetzt Mitarbeiter von Prison Fellowship Kolumbien erzählt später, dass sie auch mit dem Mörder von Marias Bruder arbeiten. Im Gefängnis hat dieser am Programm ”Opfer und Täter im Gespräch” teilgenommen und möchte seine Opfer um Vergebung bitten. Prison Fellowship arbeitet daran, dass ein Treffen zustande kommen kann.

José berichtet weiter, dass sie auch mit der kriminellen Bande arbeiten, die noch in der Gegend aktiv sind. 30 von ihnen wurden letztes Jahr verhaftet. Einige von ihnen sind wieder frei, andere noch im Gefängnis. Im Gefängnis haben viele von ihnen am Programm Opfer und Täter im Gespräch teilgenommen. Sie wollen jetzt aus der Bande aussteigen. Auch diejenigen, die im Viertel noch kriminell aktiv sind, sehen die Auswirkungen des Programms bei ihren Kollegen und wollen aussteigen und die Kriminalität hinter sich lassen.

Auch der Befehlshaber der AUC – eine Gruppe von Paramilitärs, aus der dann nach der Entwaffnung der Paramiliärs die BaCrim – kriminelle Banden entstanden sind, Erwin Muñoz mit dem Spitznamen ”der Russe” hat am Programm Opfer und Täter im Gespräch teilgenommen und sein Leben radikal verändert. Inzwischen ist er frei. Er möchte die Opfer um Vergebung fragen und an dem Programm ”Dörfer der Versöhnung” teilnehmen und Wiedergutmachung leisten. Bei seiner Mutter sind wir dann zum Mittagessen eingeladen. Durch die Teilnahme am Programm kann sie wieder Teil der Gemeinschaft im Stadtteil sein. Davor wurde sie von allen gemieden, da sie die Mutter des Haupttäters war.

Auf dem Weg nach Palafitos

Am nächsten Morgen machen wir uns um 5.00 Uhr auf den Weg zu den Palafitos: eine halbe Stunde Autofahrt, dann eine halbe Stunde Fahrt mit dem Boot, 20 Minuten mit dem Mototaxi über eine Landzunge, dann anderthalb Stunden mit dem Boot, bis wir dort ankommen. Wir besuchen die drei Dörfer – die jeweils auch ca. eine halbe Stunde Bootsfahrt voneinander entfernt sind und hören auch dort von vielen schlimme Schicksalen.

Eindrücklich erzählt Julia aus ihrem Leben. Mit 16 wurde sie vergewaltigt. Sie hat sich vorgenommen, ihren Vergewaltiger umzubringen. Um an ihn heranzukommen ist sie eine Beziehung mit ihm eingegangen und hat ein Kind von ihm bekommen. Sie hat immer auf die Gelegenheit gewartet, ihn umzubringen. Als er es gemerkt hat, ist er abgehauen. Später wurde er ermordet aufgefunden – wahrscheinlich hat ihr Vater den Auftrag dazu gegeben. Ihr Vater war zunächst ein Anführer einer Gruppe der FARC-Guerilla. Die Paramilitärs haben seine Schwester und ihren Mann umgebracht und ihn entführt. Nach einiger Zeit hat die Familie Essenspakete von den Paramilitärs bekommen. Nach einem halben Jahr kam ihr Vater zurück. Die Paramilitärs hatten ihn vor die Wahl gestellt: Sie bringen ihn und seine ganze Familie um oder er wird Mitglied bei den Paramilitärs. Er hat sich für die zweite Variante entschieden. Er war von da ab Informant der Paramilitärs. Er musste ihnen Informationen liefern. Er wusste, dass er und seine Familie umgebracht würden, wenn er nichts liefert. Daher hat er geliefert – und viele seiner Nachbarn und Dorfbewohner der Palafitos verraten. Er hat die Information weitergegeben, dass sie mit der FARC kooperieren würden – obwohl das nicht gestimmt hat. Wegen dieser Falschinformationen haben die Paramilitärs unter der Führung von Nehemia (siehe Buch von Christoph Zehendner) die Massaker durchgeführt und viele Dorfbewohner umgebracht. Später haben die Paramilitärs herausgefunden, dass die Information falsch war und brachten daher Julias Vater um.

Julia hat sich lange nicht aus dem Haus und schon gar nicht in die Nachbardörfer getraut, da ihr Vater so viele Menschen auf dem Gewissen hatte. Durch die Teilnahme am Programm ”Dörfer der Versöhnung” konnte sie sich jetzt mit den anderen Dorfbewohnern aussprechen. Sie kann sich jetzt wieder frei bewegen und ist wieder Teil der Dorfgemeinschaft geworden. Viele der Dorfbewohner berichten, wie sie durch das Programm ihren Hass und Zorn losgeworden sind und wieder neue Hoffnung schöpfen konnten.

Nach vielen weiteren Geschichten treten wir die Rückreise mit dem Boot an. Auch hier werde ich Zeuge einer unvorstellbaren Lebensveränderung. Rodrigo Aranas ist inzwischen ehrenamtlicher Mitarbeiter von Prison Fellowship Kolumbien und hilft anderen im Versöhnungsprozess. Das war noch nicht immer so. Er war Mitglied der Guerilla-Organisation M19. Seine Spezialität: Autobomben. Nachdem die M19 aufgelöst wurde fand er schnell einen anderen Dienstherren: Pablo Escobar. Eines seiner Attentate fand in Barranquilla statt. Das Hotel Royal gehörte einem Drogendealer, der nicht mit Pablo Escobar zusammengearbeitet hat. Das ging nicht lange gut. Rodrigo wurde beauftragt vor dem Hotel eine Autobombe zu zünden. Am 20.10.1989 parkte er sein Auto vor dem Hotel. Das Hotel wurde zerstört und ganze 10 Häuserblocks wurden schwer beschädigt.

Zum Glück wurde ”nur” eine Person getötet. Rodrigo wurde nur wenige Stunden später von gefasst. Drei Tage lang wurde er von der Polizei gefoltert und hing an den Händen angebunden im Raum. Er wurde zu 128 Jahre Haft verurteilt. Da er im Gefängnis zum Glauben gekommen ist und sich radikal verändert hat, konnte er schon nach 9 Jahren auf Bewährung entlassen werden. Seitdem ist er Ehrenamtlichen von PFC. Aus dem Bombenattentäter ist ein Hoffnungsträger geworden.

Der Besuch auf den Palafitos ist zu Ende gegangen. Die Arbeit geht weiter. Noch viele andere Opfer und Täter des Konflikts leben in Hass, Verbitterung, Verzweiflung und ohne Hoffnung für die Zukunft. Die Hoffnungsträger Stiftung sucht daher weitere Unterstützer, um die wichtige Arbeit von PFC für Frieden und Versöhnung weiter ausbauen zu können.

Weitere Fotos von dem Besuch auf Palafitos, in Palermo und in Barranquilla.


Jeder verdient eine zweite Chance Christoph ZehendnerChristoph Zehendner berichtet in seinem Buch „Jeder verdient eine zweite Chance – Hoffnungsträger Geschichten aus dem Seehaus und dem Rest der Welt“ auch über seine Begegnungen in Kolumbien. Das Buch kann bei der Hoffnungsträger Stiftung (hier) bestellt werden.

Informationen zu weiteren Projekten von Prison Fellowship Kolumbien.