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Strafvollzug in Familie – Die Süddeutsche Zeitung berichtet über das Seehaus Störmthal

Die Süddeutsche Zeitung berichtet im Panorama-Teil ihrer Printausgabe vom 15. Dezember 2017 über das Seehaus in Störmthal. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Freie Form des Strafvollzugs

Straftäter im Haus

Das gemeinsame Essen spielt eine große Rolle im Seehaus Störmthal. Viele der jungen Straftäter essen zum ersten Mal geregelt mit der gesamten Familie an einem Tisch. (Foto: Charlotte Sattler)

In Sachsen können jugendliche Verurteilte mit einem Ehepaar und dessen Kindern zusammenwohnen – viele lernen zum ersten Mal ein geregeltes Familienleben kennen. Besuch in einer ungewöhnlichen WG.
Von Alexander Krützfeldt

Ob er manchmal Angst habe, dass die Straftäter seinen kleinen Kindern etwas tun, wenn sie mit ihnen spielen? Das wird Franz Steinert häufig gefragt. Dann überlegt er, weil, es ist schon so: Neben seinen Kindern – eins, drei und fünf – sitzen gefährliche Körperverletzung, Raub, Erpressung und Nötigung. Franz Steinert, 33, Politologe und Ex-Punk, überlegt und lächelt und denkt, was wohl eine höfliche Antwort wäre.
Neben Steinerts kleinster Tochter sitzt Richard. Er ist einer von aktuell fünf jungen Straftätern, die in der Einrichtung des Vereins „Seehaus“ in Störmthal bei Leipzig mit Familie Steinert zusammenwohnen. Richard heißt nicht wirklich Richard, ist erst 18, hat aber schon versucht, ein Asylbewerberheim samt Insassen anzuzünden.
„Wenn ich wirklich Angst hätte“, sagt Franz Steinert dann und reicht Richard den Honig, „könnte ich’s doch gar nicht machen. Dann würde all das nicht funktionieren. Es beruht ja auf Vertrauen.“

Vertrauen, Familie, Miteinander: Die meisten erleben das hier zum ersten Mal

Einig waren er und seine Frau Stefanie, 33, sich nicht, als ein Freund im Sommer 2012 mit der Stellenanzeige vor ihnen stand. „Das war überhaupt nicht mein Ding“, erzählt Stefanie Steinert. „So eng, auf einem Hof. Mit Leuten aus dem Knast. Franz wollte es aber unbedingt, der hatte so ein Leuchten in den Augen, da habe ich gedacht: nun gut. Versuchen wir es.“ Leben in Gemeinschaft, etwas bewirken, etwas tun für die Gesellschaft, das ist es, was Franz Steinert will. Im November 2012 zogen die Steinerts auf den Hof in der Nähe von Großpösna.
Der Unterschied sei, sagt Richard und macht die Kaffeemaschine sauber (ein bisschen läppisch vielleicht, weshalb er gleich ermahnt wird von Stefanie Steinert, noch mal ordentlich nachzuwischen): „Im Knast zählt nur hart sein, Eier zeigen. Sonst gehst du da unter.“ Das mache die Jungs nicht zu besseren Menschen, findet Richard, eher im Gegenteil. Hier hingegen wird positives Verhalten belohnt, „viele von uns haben zum ersten Mal eine richtige Familie“, sagt Richard. Die Jungs fühlen sich sicher; es sind immer Jungs, weil im Strafvollzug nach Geschlechtern getrennt wird. Eine WG wie diese in Störmthal gibt es für Mädchen nicht, der Anteil an weiblichen Straftätern ist für so ein Angebot zu niedrig.
Um den fünf jungen Männern Selbstvertrauen zu geben – und um die Eigeninitiative zu fördern – haben sie sich ein Punktesystem einfallen lassen. Jeder Bewohner sammelt Benotungen, alles wird täglich bewertet, wer ordentlich war, wer putzt, wer Streit schlichtet, wie gut sich die Bewohner in der Schule und bei der Arbeit machen. Die Punkte werden gezählt, dafür steigt man auf; der höchste Rang ist der Löwe. „Je höher dein Rang, desto mehr darfst du alleine tun“, erklärt Richard. „Ohne Rang darfst du nicht mal alleine aufs Gelände, und jemand wartet vor dem Klo.“ Vertrauen ist ein blindes Chamäleon. „Theoretisch kannst du alles schnell wieder verlieren, und wenn du richtig Mist baust, gehst du zurück in den Knast“, sagt Richard. „Das will hier niemand.“ Er ist Löwe-Anwärter, zweithöchste Stufe, monatelange Arbeit sei das gewesen.
Freigang gibt es keinen, nur wer die höchsten Stufen erreicht, darf von Zeit zu Zeit seine Familie besuchen.
Der Knast ist knapp 30 Kilometer entfernt: die Jugendstrafanstalt Regis-Breitingen. Dort bewerben sich die jugendlichen Straftäter auf einen Platz im Seehaus. Sachsen hat als Pionier und eines von wenigen Bundesländern eine dritte Säule im Strafvollzug etabliert – die freie Vollzugsform. Die Bewerber werden von der Anstalt geprüft, Vorgespräche folgen, und wenn sie sich eignen, geht es los. Formal bleiben sie Gefangene, das heißt: Auch für die Anstalt bedeutet es viel Vertrauen in die Kräfte der Initiative. Ausgeschlossen sind Häftlinge, die eine Therapie brauchen: Sexualstraftäter, Drogenabhängige, Gefangene mit Persönlichkeitsstörungen. Sie können im Seehaus nicht ausreichend behandelt werden.
Darüber ist Franz Steinert nicht unbedingt unglücklich, weiß er doch, was in der Nachbarschaft los wäre, „wenn hier noch Vergewaltiger rumliefen“, und was das für seine Familie bedeuten könnte. Da es im Seehaus kein Sicherheitspersonal gibt, ist der Tagesplan straff: 5.45 Uhr Aufstehen und Frühsport. Dann stille Zeit, zum Lesen zum Beispiel. Dann Frühstück. Dann Putzdienst. Dann Arbeit auf dem Bau oder in einem Handwerksbetrieb – und Schule. Abends gibt es Abendessen, gemeinsames Nachrichten-Schauen, gegen 22 Uhr geht es ins Bett. So komme keine Langeweile auf. „Langeweile bringt dich auf dumme Ideen“, sagt Richard und steckt sich nach dem Putzen vor der Tür eine Kippe an.

Die Schwelle zum Privatbereich dürfen die Jungs nicht übertreten, niemals

Der Tagesplan sei auch für die Mitarbeiter heftig, sagt Franz Steinert. Aber er sorge für „unsichtbare Gitterstäbe“. Bilanz: wenig Ärger, Franz Steinert kann sich nur an einen Einzigen erinnern, der vor ein paar Jahren geflohen ist, aber der wurde schon nach ein paar Stunden gestellt.
„Als Familie bedeutet diese Arbeit wenig Zeit und viele Entbehrungen“, sagt Stefanie Steinert. Muss man mögen, soll das heißen. Für die beiden sei es: die beste und sinnvollste Arbeit der Welt. Aber die Kernfamilie kommt manchmal recht kurz. Anderseits sind die Eltern immer zu Hause, und alle zwei Wochen hat die Familie ein Wochenende für sich, dann übernimmt jemand anderes die WG für zwei Tage.

„Wenn du einem Kind sagst, dass du aus dem Knast kommst, spielt es trotzdem mit dir weiter“: In Störmthal bei Leipzig leben junge Männer, die wegen Raub, Erpressung oder gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurden, mit den Steinerts und ihren drei kleinen Kindern zusammen. (Foto: Charlotte Sattler)

Die Gruppe ist christlich organisiert. Glaube und Bibelkunde seien kein Muss, die Benotung ist davon entkoppelt. Aber morgens wird gesungen und aus der Bibel gelesen. „Mir persönlich hat das Halt gegeben“, sagt Richard und fügt hinzu: „Die Gruppe, das Vertrauen, das Miteinander. Kannte ich nur aus der rechten Szene.“
Weil es gut läuft, baut die Initiative bald eine weitere WG an – dann ziehen sie um, in zwei größere Häuser direkt am See, die bald fertig sind. Die Zahlen sind gut, das Gefängnis ist sehr zufrieden. Das liegt aber eben auch daran, dass das Seehaus sich die Straftäter aussuchen kann. „Wir können den geschlossenen Strafvollzug nicht ersetzen“, sagt Franz Steinert. „Das wollen wir auch nicht. Wir können diesen Jungs hier eine Chance bieten, eine richtige Familie, die sie nie hatten. Sie sind noch jung.“ Nur ein Drittel bricht das WG-Leben ab und geht zurück nach Regis-Breitingen.
Manchmal spielen die echten Kinder und die neuen zusammen. Fangen im Haus. Da hat Franz Steinert keinerlei Bedenken. Im Gegenteil. Die WG und die Privatwohnung sind durch eine Tür rechts vom Eingang getrennt. Ein bisschen Privatsphäre braucht die Familie halt auch. „Dann stellen sich die Kinder von Franz und Steffi einfach hinter die Schwelle und winken“, sagt Richard und lacht. Sie wüssten ja, dass niemals einer von den Jungs einen Fuß hinübersetzen würde. Und das, sagt der 18-Jährige, sei das schöne am Leben mit den Kleinen: „Wenn du einem Kind sagst, dass du aus dem Knast kommst, spielt es trotzdem mit dir weiter.“
Erwachsene sind anders. 2015, als es um den Neubau am See ging, wehrte sich eine Bürgerinitiative mit drastischen Plakaten: „Kein Knast in der Nachbarschaft!“
Aber wie dann einen Weg zurück finden? Wie ein normales Leben führen lernen? Ohne direkt wieder auf die schiefe Bahn zu kommen? Die Initiative hat viel gemacht am Ort. Baut Klettergerüste für Kindergärten. Um Vertrauen zu schaffen.
Vielleicht hat das Seehaus eine Antwort gefunden auf die Frage, wie Resozialisierung funktionieren kann; und vielleicht hat sich auch die Frage nach der Angst irgendwann erübrigt.

Quelle: SZ-Online.

Mehr erfahren: MDR-Reportage über das Seehaus Störmthal vom November 2016.


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