Geliebte Feinde
eine Reportage im Stuttgarter Zeitungs-Magazin
von David Graaff
„Unterwegs mit Unternehmer-Sohn Tobias Merckle, der in Kolumbien ein großes Projekt zur Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern des Bürgerkriegs fördert.
Auf dem Vorhof eines Militärgefängnisses nahe der kolumbianischen Großstadt Medellín steht Luz Mery Velásquez und behauptet, sie sei ein Tiger. „Ihr seht mich hier, mit lauter Stimme sprechend, kräftig und stark wie eine Raubkatze“, ruft sie den 40 Personen in weißen T-Shirts zu, die um sie herum auf Plastikstühlen sitzen und Luftballons in den Händen halten. „Doch ganz im Inneren bin ich ein Kätzchen, das nur deshalb zum jagenden Tiger werden muss, weil es überleben will.“ Alle in der großen Runde haben ihren Namen und ihr Lieblingstier auf einen Ballon geschrieben. „So, komm her, mein Junge, jetzt bist du dran“, ruft Velásquez im Befehlston einem glatzköpfigen, breitschultrigem Mann zu. Dieser rafft sich eher widerwillig auf, um der Aufforderung zu folgen. Deshalb hakt Velásquez sich bei ihm unter, zieht ihn resolut an sich heran. Und er beginnt zu sprechen. Sein Name sei John Álvarez, sagt er, Feldwebel der kolumbianischen Armee außer Dienst. Und er sei kräftig und anmutig wie ein Pferd. Die Gruppe der Frauen, die sich hier versammelt
haben, besteht aus Opfern des kolumbianischen Bürgerkrieges, der um 1964 begann und bis heute andauert. Jede von ihnen, die meisten über 60, hat eine Geschichte zu erzählen: von spurlos verschwundenen und nie mehr aufgetauchten Ehemännern, von zwangsrekrutierten Söhnen und getöteten Kindern, von Vergewaltigungen. Die Männer wiederum, die hier schweigend zuhören, waren Soldaten, die auf der Seite der Täter standen. Zu der Zeit, als die Staats- und Militärführung – Anfang der 2000er-Jahre, in der blutigsten Phase der Konfrontation zwischen Guerillas, Paramilitärs, Drogenbanden und staatlichen Sicherheitskräften – die militärischen Erfolge in der Anzahl der Toten bemaßen und auf Erfolge drängten, richteten ihre Einheiten unschuldige Zivilisten hin und präsentierten sie fälschlich als im Kampf gefallene Terroristen. Ein damaliger General forderte „Flüsse von Blut“. „Wir hatten keine Wahl“, beteuert einer der ehemaligen Soldaten später. „Hätten wir widersprochen, wären wir erschossen worden.“ Über 6400 solcher Fälle soll es dem Bericht einer Wahrheitskommission zufolge gegeben haben. Insgesamt, so glauben Experten, könnten in 30 Jahren Krieg fast eine Million Menschen ihr Leben verloren haben.“….
Zum Artikel als pdf: StZ_01_2024_Kolumbien Versöhnung Friede (Mit freundlicher Genehmigung des Verlags).
Zum Stuttgarter Zeitungs-Magazin auf insta